Lesung in der Brasserie & Restaurant V, Klosterstr. 4
19. November 2010, 20.°° Uhr
Ein Spaziergang durch die sonnige Südtiroler Postkartenidylle wird zu einer gefährlichen Wanderung bis ans Ende der Nacht, ein Arbeitsausflug zu einer Flucht vor sich selbst: Matthias Harms, auf Zwangsneurosen spezialisierter Psychotherapeut, gerät auf einer Tagung in Meran durch scheinbar harmlose Begebenheiten unversehens an seine Grenzen. Ihn plagen Erinnerungen an seine viel zu früh verstorbene Schwester, und ihre gemeinsame Kindheit im bedrückend strengen Elternhaus rückt ihm unerbittlich auf den Leib. Aus dem sonst so beherrschten Zuhörer, der mit seiner Frau, einer Sozialarbeiterin, und seinem besten Freund einen Club der Guten bildet, wird ein im Innersten erschütterter, verlorener Mensch, dem sämtliche Gewissheiten abhandenkommen.
Mareike Krügel changiert geschickt zwischen Vergangenheit und Zukunft. Mit trockenem Witz und einem unbestechlichen Sinn für Situationskomik zeichnet sie das berührend-dramatische Psychogramm eines scheinbar souverän geerdeten und in allen Belangen des Lebens erfolgreichen Mannes.
Der Roman zeigt das Dilemma, in dem sich Therapeuten befinden, die ständig für Andere sensibel und wach sein müssen und dabei ihre eigenen psychischen Befindlichkeiten übersehen. In feiner Diktion, scharf beobachtend, erlebt Matthias nun an sich selbst, wie man die Kontrolle über sich verlieren kann.
Mareike Krügel kennt sich gut aus mit den psychotherapeutischen Regeln und mit unterschiedlichen seelischen Krankheiten. In den von ihr beschriebenen Gesprächen zwischen Freunden und Kollegen werden Diagnosen und Behandlungsmöglichkeiten besprochen. Nebenbei aber zeigt sie mit den feinfühligen Beobachtungen des Protagonisten, wie geschärft die Sinnesorgane auf die äußeren Schönheiten der Natur reagieren, wenn die geschundene Seele Ruhe sucht.
Es geht in dem Roman auch um Erziehungsmethoden der Vorgeneration, und es geht um die Frage, wie weit man selbst dem Kinderwunsch nachgeben möchte. Ist die Erinnerung an die strafenden Eltern noch allgegenwärtig, erlaubt man sich keine Zuversicht, dass man es besser machen könnte. Es geht aber auch um Ehe, Liebe, Treue und die innere Verbundenheit zwischen Paaren. Tiefsinnig, reflektiert und sehr kompetent weist die Autorin auf Ambivalenzen hin, die das Leben bestimmen. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft stehen nicht für sich sondern bilden einen Gesamtkomplex. Mit dem Mangel leben und die Vergangenheit akzeptieren lernen ist die Botschaft dieses Romans.
Mareike Krügel hat das Thema klug und wissend um die seelischen Abgründe bearbeitet. Ihr ist eine spannende Erzählung über die Möglichkeiten und Grenzen therapeutischer Hilfen gelungen und über die Not, denen auch Therapeuten ausgesetzt sind.
Mareike Krügel ist 1977 in Kiel geboren und lebt in Schleswig. Sie studierte am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig.
2003 erschien ihr erster Roman „Die Witwe, der Lehrer, das Meer“, im September 2005 „Die Tochter meines Vaters“, den sie im Januar 2006 auch in Meldorf vorstellte.
Mareike Krügel erhielt zahlreiche Stipendien, zuletzt war sie als Stipendiatin des HALMA-Netzwerks in Polen und Wales. Für den Roman „Die Tochter meines Vaters“ wurde sie 2003 mit dem Förderpreis der Stadt Hamburg ausgezeichnet. 2006 erhielt sie den Friedrich-Hebbel-Preis.